Wie die Telefonate „Syberia“ runterziehen (Spoiler)

Gegen Ende des Spiels „Syberia“ kriegt Protagonistin Kate einen Anruf von Freundin Olivia. Olivia hat mit Kates Verlobten geschlafen und fühlt sich furchtbar. Kate hat dazu erstmal nichts zu sagen (sie müsse die Information noch verarbeiten), woraufhin sie sich anhören muss, sie würde sich wie „ein Automat“ benehmen.

Was war bis dahin passiert? Kate war auf Geschäftsreise, um für ihren Chef die Übernahme einer Automaten-Fabrik abzuschließen. (Automaten sind hier sowas wie Roboter, nur nicht ganz, wie man Kate zu Beginn immer wieder aufzeigt, ohne genauer zu erläutern.) Das gestaltet sich schwerer als erwartet, denn die Fabrikinhaberin ist kürzlich verstorben, sodass ihr Bruder als Erbe aufgesucht werden muss. Kate beginnt eine abenteuerliche Reise durch exzellenten Clockpunk; sie trifft interessante Gestalten (davon manche Menschen, manche Automaten, aber keine Roboter) und interessante Gegenden und verliert sich augenscheinlich viel mehr in das Abenteuer, während zuhause in New York ihre beste Freundin und ihr Verlobter sich von ihr distanzieren und sich zueinander näherkommen.

Bis schließlich dieser Anruf kam, in dem Olivia gesteht und merkt, dass Kate keine weitere Reaktion zu haben scheint.

Ich mag keine Telefone in Spielen. Ähnlich wie im echten Leben, unterbrechen Anrufe, was man gerade tut (GTA IV als Extrembeispiel), und es ist eigentlich nicht so schön, mit einer Nicht-Präsenz zu sprechen. Aber „Syberia“ treibt das ganze etwas weiter: Die Telefonate zeigen die Schwächen des Spiels auf und sind selbst eine Schwäche. Sie ziehen das Spiel runter.

Das Hauptproblem der Telefonate ist, dass die Figuren schwach geschrieben sind. Es gibt einen cartoonischen Chef und eine schwafelnde Mutter. Aber die Spitze ist Kates Verlobter, Dan, der schon im ersten Anruf am ersten Tag der Geschäftsreise unbegründet böse darauf ist, dass sie ausnahmsweise nicht bei ihm ist. Er lernt auch nie, seinen Ärger ferner auszuführen. Im Verlauf des Spiels ist seine einzige Entwicklung, noch böser zu werden (bis er schließlich fremdgeht.) Das ist langweilig. Die scheinbar größere Entwicklung macht Olivia durch, die erst Verständnis für Kate zeigt, aber dann nach und nach auf Dans Seite gezogen wird (so sagt sie in einem Anruf, dass sie in Gesprächen mit Dan seine Sicht nachzuvollziehen lernt). Nur kann der Spieler immer noch nicht Dan nachvollziehen, sodass jetzt zwei Charaktere irrational böse auf Kate sind. Und geschwächt wird das ganze, wenn Olivia gesteht, dass sie sowieso immer in Dan verknallt war, d.h. ihre Entwicklung ist tatsächlich nur, zu welchem Grad sie sich vor Kate verstellt hat.

All diese Telefonate nichts zum Spiel bei. Sie geben nur Updates über Kates Bekannte. Sie ändern aber nichts an Kates Motivationen. Als Spieler sieht man nicht einmal die Reaktionen auf die Statusupdates aus dem Leben der Anrufer, weil entweder Kate oder der Anrufer stets erbost oder entnervt mitten im Gespräch auflegen. Dann geht’s weiter mit dem Spiel wie bisher. Man könnte die Telefonate rausnehmen und das Spiel wäre überwiegend das gleiche.

Nur dass das Spiel dann tatsächlich besser wäre. Denn diese Telefonate zeigen Zeitinkonsistenten auf. Zwischen jedem Anruf Olivias sind scheinbar mehrere Stunden oder Tage vergangen. Das führt zur interessanten Beobachtung, dass die Zeit in Kates Leben (das der Spieler verfolgt) stillsteht, wohingegen die Welt da draußen (von der der Spieler nur hört) weiterläuft.

„Syberia“ gilt als eine Reise, aber eigentlich spielt der Spieler nur die Reise-Stopps durch. Und wenn die Reise mal stoppt, dann richtig. An einem Stopp besucht man eine Vorlesung und wenn man die Universität verlässt, steht die Sonne wie zuvor, Charaktere rattern noch immer die gleichen Phrasen wie vorhin. Es scheint keine Zeit vergangen. Das beißt sich mit den Anrufen des Chefs, der stets von Zeitdruck spricht. Ich als Spieler bekam das Gefühl, dass ich nicht auf einer Reise war, sondern gefangen. So langweilig die Entwicklung zwischen Olivia und Dan auch ist, immerhin haben sie eine, während meine Kate nur immer wieder feststeckt. Örtlich und zeitlich.

Und das macht das Ende so verrückt, wenn Kate endlich ihr Ziel erreicht hat, die Unterschrift des Erben zu kriegen. In der finalen Videosequenz tritt Kate den Weg nachhause an, doch entscheidet sich mittendrin dagegen – sie will weiterreisen und Abenteuer in der Welt der Automaten erleben.

Und ich denke, ich verstehe, was der Autor wollte. Er wollte zeigen, dass Kate ihre Reise so toll fand, dass sie ihrem Leben in New York fremd wurde. Das ist, wieso Olivia bemerkt hat, dass Kate selbst ein Automat geworden zu sein scheint. Für dieses Ende gibt’s all diese Telefonate. Denn wie soll man ihre Abkehr zeigen, wenn man nicht zeigt, wovon und wieso sie sich abkehrt?

Demgegenüber steht jedoch, dass ich besonders durch die Telefonate bemerkt habe, dass die Welt da draußen lebhafter ist, als die neue Welt von Kate. Demgegenüber steht, dass Olivia nur Kates Nicht-Reaktion bemerkt, weil Kate zum ersten Mal nicht erbost mitten im Gespräch aufgelegt hat. Und demgegenüber steht, dass nie eine wahre Entwicklung durchgemacht wurde. Dan hat sich im ersten Telefonat gegenüber Kate ähnlich verhalten wie im letzten. Ihr Chef ähnlich. Ihre Mutter ähnlich. Kate ist die gleiche Frau wie zu Beginn.

Und ich kann kein Französisch, darum musste ich die englische Übersetzung spielen. Vielleicht ist das Original besser. Und ich möchte ungern sagen, wie ich es anstelle des Autors gemacht hätte. Aber ich finde, dass das Spiel besser ohne die Telefonate wäre. Doch wenn man sie so dringend drin lassen möchte, könnte man wenigstens das letzte Olivia-Telefonat bedeutend machen:

Wenn Olivia Kate für emotionslos hält, hätte sie sie „wie einen deiner Roboter“ nennen sollen. Und Kate hätte sagen sollen: „Du meinst, Automaten.“ Denn nur Außenseiter nennen „Automaten“ „Roboter.“

Im Spiel hat Kate stattdessen aufgelegt wie all die Male zuvor.